Das Kollektivgedächtnis Und Die Geschichtsschreibung Mit « Hors La Loi » Von Rachid Bouchareb
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Bauhaus-Universität Weimar Fakultät Medien, Medienkultur Frau Czerney
Das Kollektivgedächtnis und die Geschichtsschreibung mit « Hors la Loi » Von Rachid Bouchareb
Hausarbeit im Rahmen des Seminars „Mediale Historiographie“ Wintersemester 2011/12
Von Léa Baty 9 Rue des Fours à Chaux 85240 Foussais-Payré France Tel. : 01636626609 eMail : lea.baty@uni-weimar.de Matrikel-Nr. : 11 03 61 3. Semester BA-Studiengang : Europäische Medienkultur Weimar, den 21. Mai 2013 !
Der Algerienkrieg fand 1954-1962 zwischen den französischen Streitkräften und der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN statt. Fünfzig Jahre sind seitdem vergangen und er scheint zeitlich weit genug zurückzuliegen, um als ein abgeschlossenes Geschichtskapitel zu gelten. Aber erst im Oktober 1999 beschloss die französische Nationalversammlung, den Begriff „Algerienkrieg“ im offiziellen Sprachgebrauch zu erlauben: dies zeigt, wie akut die Polemik um die Kriegserlebnisse blieb. Mit den Aussagen der Zeitzeugen hat sich bis in den neunziger Jahre ein Kollektivgedächtnis gebildet, aber dennoch bleibt die Geschichte des Algerienkriegs noch viel umstritten. Inwiefern beeinflusst das Kollektivgedächtnis die Geschichtsschreibung? Zuerst wird sich diese Hausarbeit auf das Kollektivgedächtnis des Algerienkrieges beziehen, indem die Polemik um Rachid Boucherb’s Film analysiert wird (I). Es folgt eine Analyse der Rolle der Zeitzeugen im Verhältnis zu der der Historiker und ihrer Zusammenarbeit für die Geschichtsschreibung (II). Schließlich wird erörtert, inwiefern das Kollektivgedächtnis und Zeitzeugen die Geschichtsschreibung beeinflussen (III). I. Das Kollektivgedächtnis des Algerienkrieges a. Hors la Loi (« Gesetzlos »), ein umstrittener Film Zeitzeugen haben heute noch großen Einfluss auf die
Geschichtsschreibung des Algerienkrieges. Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen Filme, die zu diesem Thema gedreht wurden: z.B. „Nuit Noire 17 octobre 1961“ von Alain Tasma, der über das Massaker des 17. Oktober 1961 in Paris berichtet, oder „Hors La Loi“, ein Film von Rachid Bouchareb, der in Frankreich zu einer großen Polemik geführt hat. Der 2010 veröffentlichte Spielfilm des französisch-algerischen Produzenten Rachids Bouchareb erzählt die Erlebnisse von drei Brüdern, deren Familie die Massenmorde von Sétif während des Algerienkrieges ( 1954-1962 ) überlebt hat. Die letzten Filmszenen erwägen den Massenmord vom 17. Oktober 1961 in Paris. Noch vor der ersten Vorführung verursacht der Film deutliche Polemik. Die Erklärung von Rachid Bouchareb, eine der 1
Ambitionen des Filmes seie “die Dunkelzonen der gemeinsamen Geschichte der beiden Ländern ans Licht bringen” und „die historische Wahrheit wiederherzustellen" ist dafür der Grund. Noch bevor er den Film sehen konnte beschuldigte Lionel Luca, ein Abgeordneter der konservativ-politischen Partei UMP, den Film der Geschichtsfälschung von Sétif. Er bezüglich wurde durch der die Massenmordbeschreibung
Interviews des Regisseurs alarmiert und befürchtete, dass der Film als französischer Film in Cannes ausgewählt wird. Noch vor der Veröffentlichung des Filmes hat er vom französischen Staatssekretär der Verteidigung und der Ehemaligen Kämpfer, Hubert Falco, die Streichung des Films gefordert. Vor seiner Erstaufführung verursachte der Film derartig Aufregungen und Emotionen dass vom Staat ein Eingreifen gefordert wurde. Es gab eine Konfrontation des Kollektivgedächtnises und der Geschichte innerhalb der Gruppen der Zeitzeugen und der Historiker: 2010 in Cannes zur Erstaufführung gab es viele Demonstrationen von Zeitzeugen : z.B., die „Gruppe für die geschichtliche Wahrheit“, die Rachid Bouchareb vorwarf, die Wunden wieder aufzumachen und die Geschichte zu fälschen, oder Lionel Luca und die Vereine der „Pieds-noirs“, mit dem Vorwurf, ein schlechtes Bild von den Franzosen zu zeigen. Es gab aber auch viele Gegendemonstrationen, z. B., die ehemaligen französischen Soldaten, die diesen Film als eine letzte Ehrung für die Kriegstoten sehen. Bei den Historikern gibt es jedoch auch Meinungsunterschiede: Eine algerische Historikerin kritisiert den Film und seine Irrtümer. Benjamin Stora, einer der französischen Spezialisten des Algerienkrieges, wirft zwar einen kritischen Blick auf diesen Film, unterstreicht aber auch positive Punkte, wie z.B., der gewählte Blickpunkt eines Einwanderers. Es gibt also eine algerische
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Betrachtungsweise der Ereignisse von Sétif im Gegensatz zu der Betrachtungsweise der französisch-Algerianer. Gedächtnisschwächen, Identitätsunterschiede Frustrationen. b. Die Suche nach der verborgenen Wahrheit Generell verursachte Polemik. die Es Geschichtsschreibung gab drei Phasen in des dieser Anerkennungsbedürfnis verursachen Verletzungen und und
Algerienkriegs
Geschichtsschreibung: 1 Die erste Phase direkt nach dem Krieg, war eine Art Ruhephase. Man wollte den Krieg vergessen. Die Kämpfer und die Bevölkerung waren verletzt, psychologisch traumatisiert. Man wollte ein neues Leben anfangen, weit entfernt von dem, was im Kampf passiert war. Es gab auf der algerischen Seite keine Erinnerungszeremonien, nationalistisch und Geschichtsschreibung die und Kriegsvision es vieles gab blieb war nur hauptsächlich eine offizielle Die heroisch,
ungesagt.
angegebenen Zahlen waren gefälscht. Währenddessen haben sich die Politiker mit den Fakten beschäftigt. Es war aber schwer, richtige Zahlen zu finden, da der Staat und die Militärkräfte fast die einzigen waren, die dazu beigetragen haben. Es handelte sich mehr um eine Faktenerfassung und es gab sehr wenige Zeitzeugen, um diese Fakten aufzuklären. Es gab eine gewisse Kontrolle der Institutionen. Die zweite Phase ging bis 1990. Ab 1962 kümmerten sich unzufriedene Gruppen darum, kleine Kollektivgeschichtsgruppen zu vereinen, um ihre Aussage legitim zu veröffentlichen. Es gab allgemein
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auf
der
französischen
Seite
viele
nationale
Assistancescolaire.com, L’historien et les mémoires d’Algérie, Unterricht für terminale ES. 3
Frustrationen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Es handelt sich also hauptsächlich um kleine Gruppen, die versuchen, die Zeitzeugen und deren Aussagen zu vereinen. Die Historiker bearbeiteten die Archive. Sie kümmerten sich hauptsächlich darum, die Zahlen, Angaben und kleine Aussagen in Volumen und Bücher zu konzentrieren. Leider war noch ein ganzer Teil der Geschichte im Schatten. Manche Historiker haben sich mit den schüchternen Aussagen der seltenen Zeitzeugen beschäftigt und haben sich gefragt, warum so ein großer Teil der Geschichte verborgen wurde. Auf der algerischen Seite war diese Arbeit erschwert wegen der starken Staatskontrolle. Ab 1990 rückte die Aufarbeitung der Algerienkriegsgeschichte ins Rampenlicht. .Es gab einen nationalen Konsens in Frankreich. Viele Aussagen wurden in der Presse erstmals veröffentlicht, der Journalismus Frankreich der und Bucherscheinungen „Algerienkrieg“ befassten vom sich überwiegend mit dem Kollektivgedächtnis. 1999 wurde in Begriff französischen Parlament anerkannt. Es gab aber noch zu viele Gruppen, die eine Aussöhnung verhindern wollten. Die algerische Gesellschaft forderte jedoch die Wahrheit. Nach 1998 gab es immer mehr Veröffentlichungen von Zeitzeugen, die die Gewalt des Krieges bezeugten. Es gab auf den beiden Seiten viele Aussagenkonflikte und nur ein Teil der Aussagen wurden anerkannt. Die Historiker distanzierten sich von den Übertreibungen der öffentlichen Debatten; denn sie sehen sich als Beobachter .Sie haben viel dazu beigetragen, einen Konsens zu bilden. Viele Bücher bezüglich der letzten Erkenntnisse über den Algerienkrieg wurden in Frankreich herausgebracht. In Algerien ist es schwerer, weil es noch viel Kontrolle gibt, obwohl es nach 1988 (Regierungswechsel) viele Fortschritte in diesem Bereich gab. Der Algerienkrieg bleibt ein wichtiger Aspekt der französischalgerischen Verhältnisse; und verhindert eine ausgeglichene
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historische Arbeit. Hier sieht man, wie sehr das Wissensbedürfnis im Konflikt mit dem Anerkennungsbedürfnis steht. II. Die Konfrontation des Zeitzeugen mit dem Historiker a. Die Subjektive Rolle des Zeitzeugen Die „Oral-History“ Bewegung, die in den 30er Jahren in den USA gegründet wurde2, hat Zeitzeugen, die meist aus den Unterschichten stammten, einen Platz in der offiziellen Geschichte gemacht. Die „Geschichte von unten“ wurde mehr von der Geschichtsforschung miteinbezogen. Nicht nur Herrscher und Militärerfolge sollten zur Geschichte zählen, sondern auch das erlebte Alltagsleben und subjektive Standpunkte von Zeitzeugen. Der Film von Rachid Bouchareb zeigt, dass die Aussagen bezüglich des Algerienkrieges zuerst gar nicht stattfanden. Und als die ersten Zeitzeugen 30 Jahre später ihre Geschichte erzählten, gab es einen großen Drang: Jeder wollte seine Geschichte erzählen und die Historiker waren überfordert. Es gab die Frage der Zuverlässigkeit. um Historiker eine und Zeitzeugen arbeiteten zusammen, vollständigere
Geschichtsbetrachtung zu erreichen. Was die algerischen mit französischen Zeitzeugen gemeinsam haben, ist eine anklagende Haltung dem anderen gegenüber. Sie entrüsten sich oder sind von der Unkenntnis ihrer Geschichte empört. Sie verbreiten ihre Interpretation der Ereignisse, die sie berührt haben. Sie brauchen zwei Sachen, die eigentlich zusammenhängen: Eine bessere Kenntnis und eine bessere Anerkennung ihrer Geschichte.
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Dies war genau der Wille von
Rachid Bouchareb, der die Geschichte beiden Parteien zeigen möchte. Das Problem des Films ist jedoch die Frage der
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Aus dem Kurs Mediale Historiographie, 2011. Raphaelle Branche, La guerre d’Algérie, une histoire apaisée ?, Collection points Seuil, Oktober 2005, Seite 55 5
historischen Zuverlässigkeit. Jeder Filmemacher kann historische Fakten so behandeln, wie es ihm gefällt. Bouchareb bezeichnet sein Werk jedoch als eine „Gedächtnisarbeit“ mit historischem Anspruch und das ist der Grund für viele Kritiken. Zeitzeugen sind subjektiv. Bouchareb wird von beiden Seiten vorgeworfen, ein verzogenes Kollektivgedächtnis dargestellt zu haben. Er hat die Rollen von Historikern und Zeitzeugen vermischt. François Hartog, ein französischer Historiker, sagt, dass ein Historiker kein Zeitzeuge sein kann und der Zeitzeuge kann kein Historiker sein, wegen der Distanzierung, die
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dem
Zeitzeugen
zu
den
Ereignissen, die er erlebt hat, fehlt.
b. Der Zeitzeuge im Zusammenarbeit mit dem Historiker bilden die Geschichte Es gibt mehrere Arten von Aussagen: Es gibt die Aussage, die im historischen Moment formuliert wird. Es kann sich zum Beispiel um Briefe handeln. Der Zeitzeuge erlebt den Moment und spricht davon im Präsent. Und es gibt es die Distanzaussage: das heißt, dass der Zeitzeuge über Ereignisse berichtet, die in der Vergangenheit liegen. Zwar soll die historische Vorgehensweise immer eine Distanzierung zu den Aussagen bewahren, bei der Distanzaussage gibt es jedoch mehrere negative Effekte auf die Wahrheit der Fakten. Das Gedächtnis des Zeitzeugen wird durch mehreren Aspekte beeinflusst, z.B. was er später gelesen oder gesehen hat. Der Zeitzeuge strebt nach der Überbewertung seines Erlebnisses und der Generalisierung seiner Erfahrungen (er betont Einzelheiten, die in Wahrheit keine große Rolle in der Geschichte gespielt haben). Bezüglich der Aussagen über den Algerienkrieg haben die Zeitzeugen erst lange nach dem Kriegsende gesprochen und so
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sind
manche
Ereignisse
durch
die
Extrapolation
von
Francois, Hartog, Le témoin et l'historien, PDF Ausgabe, Seite 1 6
individuellen Erlebnissen zur generellen Wahrheit verformt worden. 5 Folgende Unterschiede unterscheiden Historiker und Zeitzeugen voneinander: Dekontextualisierung - Kontextualisierung: Durch die Tatsache, dass der Zeitzeuge die Geschichte erlebt hat, gibt er sich keine Mühe, sein Erlebnis im Kontext zu erwähnen. Dieser erscheint ihm selbstverständlich. Der Historiker unterscheidet eindeutig zwischen persönlichen Zitaten oder Empfindungen und dem geschichtlichen Umfeld. Bericht - Kommentar: Meistens stellt der Zeitzeuge die Elemente kommentarlos dar. Er hat andere Bezugspunkte, hat es in einer anderen Zeit erlebt. Deswegen sind die Aussagen der Zeitzeugen manchmal schwer verständlich. Die Rolle des Historikers besteht darin, „zwischen den Zeilen zu lesen“. Manchmal benutzen die Zeitzeugen auch Beschönigungen, um weniger Einzelheiten von einem schmerzreichen Ereignis zu geben. Der Historiker analysiert und erklärt diese Unterlassungen. Anachronismen – Chronologischer Ablauf: Drückt der Zeitzeuge sich mehrere Jahren nach dem Ereignis aus, so kann es zu Anachronismen kommen, wenn Fakten extrapoliert werden. Im Gegensatz dazu versucht der Historiker, die Ereignisse immer wieder im chronologischen Zeitablauf darzustellen. Subjektivität - Objektivität : Die Arbeit des Historikers beruht in der Objektivität, während der Zeitzeuge subjektiv ist, denn der Zeitzeuge spricht von seiner eigenen Erfahrung während der Historiker aber warten muss, bis er mehrere Quellen hat, um diese zu konfrontieren. Der Zeitzeuge arbeitet mit Emotionen und
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Evelyne Marsura, Le témoin et l’historien ?, 2002, memoire-net.org 7
Erinnerungen, während der Historiker mit wissenschaftlichen Regeln arbeitet.6 Jedoch ist sind die Aussagen der Zeitzeugen für den Aufbau der Geschichte sehr wichtig. Sie helfen, eine andere Dimension der Geschichte zu sehen. Sie spiegeln eine Atmosphäre, eine Stimmung, ein Leben, eine Leidenschaft und eine Authentizität wider, die der Historiker nicht spüren oder rekonstruieren kann, da er mit Distanz zur Geschichte arbeitet. Der Zeitzeuge hat auch den Vorteil zu wissen, wo die Quellen sind und was man daraus am besten interpretieren kann. Ein Historiker ist nur selten ein Zeitzeuge: wie kann man objektiv und distanziert zu einer Geschichte stehen, an der man selbst teilnahm? Die Geschichte ist objektiv, chronologisch und strukturiert, aber das Gedächtnis eines Zeitzeugens kann dies nur schwerlich sein. Der Historiker beschäftigt sich mit dem Vergleich der Quellen, der Zeitzeugen und der Fakten. So gibt es nicht eine einzige Wahrheit in der Geschichte, sondern mehrere. Die Geschichte ist eigentlich der Sinn, den man in der Vergangenheit findet, und nicht nur das einfache Lesen der Vergangenheit. Es ist ein dauerndes Hin und Her zwischen den Fragen und den Quellen. Die Gegensätze zwischen Historikern und Zeitzeugen zeigen, dass die Geschichtsschreibung lebendig ist, dass sie sich immer weiterentwickelt und dass sie die wissenschaftlichen Vorgehensweisen der Faktenaufarbeitung, aber auch persönliche Erfahrungsberichte benötigt, um sich richtig zu positionieren. Der Zeitzeuge spielt eine Vermittlerrolle: seine persönlichen Aussagen sind verständlicher und zugänglicher für das große Publikum als manche wissenschaftliche Arbeit. Zudem ist er ein Brückenbauer zwischen der Vergangenheit und der heutigen Gesellschaft. Ein
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Matthieu Lahaye, Le témoin et l’historien, in der These : "Le fils de Louis XIV (16611711). Essai sur l'autorité politique dans la France moderne". 8
Zeitzeuge scheint die Geschichte in sich zu tragen und macht sie so offenbar. III. Der Bedarf nach einem Kollektivgedächtnis a. Das Wissensbedürfnis Jede Gesellschaft hat einen starken Bedarf nach dem Kenntnis der eigenen Geschichte, um das Übertragen der Geschichte an die kommenden Generationen bilden sich zu sichern. Zur in Wissensübertragung Kollektivgedächtnisse
mehreren Formen: schriftlich, oral, gefilmt (anerkannt oder nicht). Seit mehreren Jahren wird das Kollektivgedächtnis besonders intensiv erarbeitet, besonders bei Vereinen ehemaliger Kämpfer, Widerstandskämpfer, Deportierten, verfolgter Minderheiten oder Zivilopfern der beiden Weltkriege und des Algerienkrieges, aber auch vom Staat, der die öffentliche Meinung mit einer nationalen Darstellung der Geschichte informiert. Die Rolle des Kollektivgedächtnisses besteht häufig darin, Verfolgungsumstände von Personen oder Bevölkerungen ihrer Umwelt objektiv darzustellen, dies aus ethischen und historischen Gründen. Das Kollektivgedächtnis ist keine einfache Summe von mehreren Erinnerungen, sondern ein mehr oder weniger bewusstes, freiwilliges Zusammenfassen von Erinnerungen, das sich auf Kosten der Einzelheiten bildet. So bilden sich Kollektivgedächtnisse von Gruppen, deren Mitglieder sich in ihnen wiedererkennen. Die Gruppe gibt ihr Gedächtnis weiter und verbreitet es in der Gesellschaft. Im Falle Algeriens hat der Staat geplant, ein offizielles nationales Gedächtnis zu schaffen, dies besonders durch das Unterrichten der nationalen Geschichte in den Schulen und durch staatliche Gedenkzeremonien. Dieses offizielle Gedächtnis wurde jedoch
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niemals einstimmig von der Bevölkerung und den beteiligten Staaten anerkannt. Seit dem Ende der 60er Jahre ist es heftig umstritten und es bildete sich eine Konkurrenzsituation zwischen unterschiedlichen Gedächtnissen. Letztendlich gibt es kein offizielles nationales Gedächtnis bezüglich des Algerienkrieges, das einheitlich anerkannt wird, im Gegensatz zu den zwei Weltkriegen. In Frankreich wurde 2005 in der Öffentlichkeit ein Gesetz kontrovers diskutiert, das die „positive Rolle“ Frankreichs in den Kolonien als schulisches Lernziel definierte.
b. Der Bedarf nach Anerkennung Die Rolle des Kollektivgedächtnisses besteht auch darin, durch die Anerkennung ihrer Geschichte zur Rekonstruktion der Individuen und der Gesellschaften beizutragen. Rachid Bouchareb hat diesen Film gedreht, um die verschiedenen Meinungen zu vereinen und dadurch ein anerkanntes Kollektivgedächtnis zu bilden. Nur durch Kollektivgedächtnisse wird Geschichte geschrieben, da der Zeitzeuge allein durch eine Aussage die Geschichte nicht verändern kann. Wenn sich aber eine Gruppe von gleichen Meinungen und Erlebnissen bildet, ist jede Einzelaussage wichtig, so gibt es einen gemeinsamen Blickpunkt auf das Erlebnis, das von der Geschichtsschreibung übernommen werden kann. Der Zeitzeuge kann sich in den Aussagen des Kollektivgedächtnisses oder in den Aussagen einer Gruppe wiederfinden und damit auch seiner eigenen Geschichte einen Sinn geben. Eine der Rollen des Kollektivgedächtnisses besteht darin, diese Zeitzeugen zu versammeln um einen gemeinsamen Blickpunkt der Geschichte zu bilden. Die Zeitzeugen sind Teil des Kollektivgedächtnisses, wie das Kollektivgedächtnis Teil der Geschichte werden kann.
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Die Zeitzeugen existieren nur durch das Kollektivgedächtnis und das Kollektivgedächtnis kann sich ohne Zeitzeugen nicht verbreiten.
Historiker analysieren als distanziert objektive Beobachter nachträglich die geschichtlichen Fakten in ihrem sozialen, kulturellen, politischen, religiösen Umfeld. Die Zeitzeugen bereichern die Geschichtsschreibung durch ihre subjektiven Bezugspunkte, sie personifizieren Geschichte und geben Einzelheiten, die dem Historiker wegen der Distanz fehlen. Sie sind Vermittler zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, sie bringen uns Geschichte nahe (im Gegensatz zur Distanz der Historiker). Beide Rollen tragen zu einer möglichst fidelen Geschichtsschreibung bei. Hinzu kommt das Kollektivgedächtnis: Durch das Kollektivgedächtnis vermindern Zeitzeugen den subjektiven Aspekt ihrer Geschichte weil ihr Zeugnis ins Licht anderer Zeugnisse gestellt werden. Kollektivgedächtnisse sind trotzdem nicht immer objektiv und distanziert. Nur der Beitrag des Historikers gewährt diese Distanzierung. Die Geschichtsschreibung ist ein komplizierter und vielfältiger Vorgang, der nie wirklich abgeschlossen ist. Neue Kenntnisse in den Humanwissenschaften, archeologische Funde, neue Kommunikationstechniken wie Internet stellen die etablierten Fakten ständig unter ein neues Licht. Zeitzeugnisse entwickeln sich langsam zu Kollektivgedächtnissen, dieser Prozess braucht Zeit und kann nachträglich zu einer neuen Geschichtsschreibung führen, wie es für den Algerienkrieg nach 30 Jahren der Fall war.
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LITERATURVERZEICHNIS
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Internetquellen
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