Faschismus Die anfängliche Ausblendung genuin deutscher Themen in der Exilliteratur wich mit der Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft einer bewussten Auseinandersetzung mit Deutschland. Die Untersuchung zeigt, - dass dabei der für die deutsche Geschichte und Kultur repräsentative Faust-Stoff eine zentrale Rolle spielte, - warum dieser von Th. Mann und Döblin aufgegriffen und wie er variiert wurde. Die in Doktor Faustus und November 1918 dargestelle Deutung der historischen Entstehungsbedingungen des Faschismus, der Rückgriff auf mythische Elemente und das jeweilige Erzählmodell werden kritisch diskutiert.
Die Künstlertheorie von Friedrich Nietzsche
Ausdrücklich deutet Thomas Mann in der Entstehung des Doktor Faustus darauf hin, dass sich Gedankenmaterial Nietzsches im Roman befindet: „Da so viel ‚Nietzsche’ in dem Roman ist“. Auffallend ist auch die Parallele zwischen Leverkühns und Nietzsches geistiger Umnachtung, die hin zum Tode führt. Die nachfolgende Erläuterung verzichtet darauf, sämtliche Kunsttheorien Nietzsches vorzustellen, es werden lediglich dem Doktor Faustus relevante erläutert. „Gott ist todt“ - Der bekannte Aphorismus Nietzsches ist zugleich Leitbild seiner Philosophie. Wenn Gott tot ist, dann rückt der Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung. Seine blasphemisch klingende Parole greift jene Denkweise auf, die ungefähr einhundert Jahre später zum Paradigma der Postmoderne wird. Mit dem anstößigen Weltbild, das Nietzsche formt, wird er zum Außenseiter einer christlichreligiösen Gesellschaft. Doch eben dieser Fortschritt bestimmt sein Menschenbild. Nachdem er den Menschen ins Licht seiner Philosophie gerückt hat („Ich liebe die Menschen“) und die Abkehr von den Heiligen postuliert, präsentiert er den Übermenschen. Nicht als Ende, sondern als Ziel, das nicht erreicht, aber angestrebt werden soll, fungiert dieser Übermensch. Der Fortschrittsgedanke wird wie folgt deutlich:
„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.
Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“ Weiterdenkend verschärft Nietzsche diesen Appell: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde“
Die sich darin spiegelnde Progressivität, die Unbehaglichkeit, inszeniert Nietzsche als eine existenzielle Angelegenheit. Wenn der Übermensch Sinn der Erde ist, dann füllt das Streben nach ihm den Lebensinhalt des Menschen. Wer nicht den Weg beschreitet, der zum Übermenschen führt, gilt nach Nietzsche als „letzter Mensch“[25]. Vergangenheitsbezogenheit und Stagnation werden kritisch betrachtet:
„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem
Abgrunde.“
Derjenige, der zurückblickt, verzögert oder Behaglichkeit vortäuscht, wird überholt und fällt. Um den Übermenschen zu erreichen muss, ein stetiger Entwicklungsprozess aufrecht gehalten werden. Diesbezüglich lässt sich ein neuer Terminus Nietzsches einführen: Die Langeweile. Dieser Gefühlszustand beschreibt das Stehenbleiben der „letzten Menschen“. Dennoch kann sie trotz der drohenden Behaglichkeit dazu verwendet werden, dass aus ihr Neues entspringt. Hier verknüpft Nietzsche das Übermenschmodell mit dem Künstlerbegriff, dem sich angesichts seines Einflusses auf Thomas Mann gewidmet werden soll.
Die Langeweile ist nach Nietzsche ein Kriterium, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Mensch ist sich seiner Vergangenheit und Zukunft bewusst, die Gegenwart scheint ihm somit nie vollkommen. Das Bewusstsein über die Möglichkeiten, die sich ihm im gegenwärtigen Augenblick stellen, veranlassen den Menschen ein neues Phänomen zu kreieren: Die Langeweile. Um diese „Erlebnisdefizite“ zu minimieren, erfindet der Mensch das Spiel und die Kunst. Aufgabe des Künstlers ist es nun, diese Langeweile zu erkennen und den Schein über selbige zu stülpen, der die Langeweile verschwinden lassen soll. Diese Kunst muss, um ihre Wirkung ausbreiten zu können, mythischen Charakter haben, sich gegen die unpathetische Wissenschaft wenden. Das Schaffen einer neuen, mythischen Wirklichkeit obliegt der Kunst, die Wissenschaft erkennt lediglich die Wirklichkeit. Fraglich wird nun, wie weit der Künstler gehen darf, wenn er eine neue Wirklichkeit inszeniert. In welchem Verhältnis steht das Apollinische zum Dionysischen? Zu diesem internen Kunstkonflikt gesellt sich das Reüssieren der Wissenschaft, die den Mythos entmythologisiert. Es bleibt der ästhetische Wert des Kunstwerkes, allerdings schwindet der gesellschaftliche Zweck, der ein Künstler intendiert. Als Indiz dafür, dass diese Ideen Nietzsches in Thomas Manns Epoche wiederfindbar sind, drückt der Literat mit seiner Verneinung des „Göttlichen“ aus. Wenn die Gesellschaft die Projektion einer Metaphysik der Moral negiert, dann liegt der Mythos im Sterben. Die Abstraktion der Werte auf einen göttlichen Horizont, wie es Goethe beschreibt, ist Inbegriff einer Mythologisierung. Die Frage nach Moraltransport durch ein Werk wird sekundär. Thomas Mann versucht nun den von Nietzsche ausgelösten Zwiespalt von Mythos und Moral, Subjektivem und Objektivem aufzulösen. Wenn diese Stagnation der Musik und die Langeweile auf die oben beschriebene Abkehr von der Religion als Inspirations- und Legitimationsquelle und eine zersplittete Gesellschaft trifft, dann eröffnen sich dem Tonsetzer nie dagewesene Hürden, die es zu überwinden gilt. Denn wenn die Musik sich von Mutter Kultur ablöst, dann rückt scheinbar das Individuum des Künstlers in den Vordergrund, dem von nun an die Macht obliegt, Grenzen zu setzen und zu überschreiten. Nietzsche formuliert dieses Problem in seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ wie folgt: „Nichts mehr ist wahr, alles ist erlaubt“. Nietzsches Spuren
Thomas Manns Montagearbeit verflechtet seine Impressionen des sozialen Umfeldes künstlerisch geschickt in Wörter und Sätze. Neben zahlreichen Bekannten Thomas Manns, die als Vorbild für bestimmte Personen dienen, fungiert auch Nietzsche als Inspiratonsquelle. Denn neben der Philosophie finden sich auch biographische Parallelen: Die Außenseiterrollen Leverkühns und Nietzsches, die aufgrund ihrer nonkonformen und vor allem fortschrittlichen Denkensart zustande kommen, sowie die geistige Umnachtung gegen Ende der Lebzeiten unterstreichen die Tatsache, dass sich einiges an „Nietzsche“ im Roman findet. Beide Außenseiter, Nietzsche und Leverkühn, treffen auf eine Gesellschaft, die stark an das Heideggersche „Man“ verfallen ist. Die Konvention wird angeblich interessant, doch verbirgt sich letztendlich dahinter nur ein Stillstand. Nietzsche lehrt den Übermenschen und bringt damit einen Kontrast in dieses Wetbild. Der Mensch als ein andauernd fortschreitendes Wesen, das sich seinen Horizont immer wieder neu gestalten soll. Kurz: Der Inbegriff der Progressivität. Leverkühn wird diesem Menschenbild gerecht. Schon in seiner musikalischen Ausbildung kommt Leverkühn seinem Lehrer zuvor. Die harmonische Theorie entdeckt er, bevor sie ihm von seinem Musiklehrer Kretzschmar vorgestellt wird. Die Schule zeigt in ihrer zeitlichen Effizienz kein Verständnis für Leverkühn:
„Nach fünfzehn [Minuten], spätestens, hatte ich los, woran der gute Mann mit den Buben noch dreißig kaute.“ In diesem Zusammenhang, um den Gemütszustand des Künstlers zu verstärken, setzt Thomas Mann akkumulierend das Motiv der Langeweile ein:
„Aber schon diese fünfundvierzig Fach-Minuten weilten mir zu lange. Machten mir
Langeweile [...]“ Einige wenige Textpassagen später taucht abermals die Formulierung „kalte Langeweile“ auf. Distanziert betrachtet findet eine Bewegung statt, die zwei Teilaspekte der Philosophie Nietzsches miteinander verbindet: Der Teufelspakt. Einerseits scheint dieser stilistische Griff Thomas Manns von der korrekten Übertragung Nietzsches Weltbild auf sein Werk abzuweichen. Denn eigentlich ändert Leverkühn nur die metaphysische Bezugsgröße und negiert sie nicht. Andererseits zeigt Thomas Mann (und das ist wohl auch im Sinne Nietzsches) eine Identifikation des Künstlers über ein nicht christlich-religiöses Weltbild und beweist damit wieder die Neuerungen im Leverkühnschen Denken. Leverkühns Wille ist eben so stark, dass er inspirative Hilfe aus der Metaphysik beansprucht, dabei aber trotzdem Neues wagt und vor allem -und das unterscheidet ihn von seinen Vorgängern in Thomas Manns Romanenseine Erkenntnis ins Öffentlich-Bürgerliche trägt. Neben dem verbirgt sich hinter dem Teufelspakt und der damit einhergehenden Syphilis wieder das Motiv des dekadenten Künstlers: Der Künstler, der aufgrund seiner Aufgabe am Bürgertum physisch leidet und gar seine Persönlichkeit dafür einbüßt.